Was sind Konflikte?
Brock Wegner | unsplash | Handshake
Das Außergewöhnliche findet nur ans Licht, wenn es sich den Weg durch die Auseinandersetzung und das Destruktive bahnt und nichts Negatives an ihm haften bleibt.
Konfliktfähigkeit ist neben dem eigentlichen Können die zweitwichtigste Tugend für die Frauen und Männer, die etwas vorwärtsbringen wollen und die ihre Kunst nicht in der Eremitage leben können.
Inhalt
- Was sind Konflikte?
- Ideal der Moderne
- Systeme der Konfliktlösung und des Ausgleichs von Interessen
- Muster der Austragung von Konflikten
- Meisterinnen und Meister des Konflikts
Was sind Konflikte?
Konflikte sind die häufigste Form zwischenmenschlicher Interaktion. Wenn unterschiedliche Erwartungen, Interessen, Meinungen, Wertvorstellungen oder Ziele von Personen, Gruppen, Organisationen oder Staaten aufeinandertreffen, ist das ein Konflikt. Auseinandersetzung.
Die Kuchen der Welt, in Form von Macht, Einfluss, Deutungshoheit oder Geld, sind begrenzt. Jeder möchte ein Stück abhaben und manche Menschen wollen immer das größte. Was gefällt, wollen immer auch andere. Die einen versuchen, andere davon zu überzeugen, etwas bestimmtes zu tun und manche wollen partout nicht, was die anderen von ihnen wollen. Die einen wollen, dass sich etwas ändert, die anderen wollen, dass alles so bleibt. Das Fazit ist eindeutig: Konflikte sind der unumgängliche Begleitumstand des Zusammenlebens.
Ideal der Moderne: Konflikte werden mit friedlichen Mitteln ausgetragen
Moderne Gesellschaften akzeptieren den Konflikt als Bestandteil des Zusammenlebens. Sie betrachten Konflikte als die Bedingung für Fortschritt. Alle sind aufgefordert, ihre Interessen zu vertreten, sich einzubringen, um die besten Lösungen zu ringen, aber alles unter einer Bedingung: Konflikte müssen friedlich ausgetragen werden. Die Anwendung der körperlichen Gewalt ist strikt tabuisiert und der Exekutive vorbehalten. Auch die Anwendung der psychischen Gewalt ist geächtet, aber hier existiert ein Graubereich. Körperliche Gewalt ist klar zu definieren. Die Grenze, wo hartes Ringen aufhört und psychische Gewalt anfängt, ist nicht klar zu definieren und deshalb schwer zu reglementieren.
Fortschritt fordert Konflikte.
Freiheit und Selbstbewusstsein
fördern die Bereitschaft zu Konflikten
Je freier Gesellschaften sind, desto häufiger treten Konflikte auf. Menschen trauen sich mehr, stellen Autoritäten eher in Frage und lassen sich weniger gefallen, wenn sie ihre Individualität und Freiheit in Gefahr sehen. Die Zunahme an Konflikten und der Verlust an Überschaubarkeit und Einfachheit (früher war irgendwie alles klarer) ist auf jeden Fall eine Belastungsprobe für die Einzelnen und eine Gesellschaft als ganzes, aber billigend in Kauf zu nehmen.
Systeme des Interessenausgleichs und der Konfliktlösung
Moderne Gesellschaften haben zur Regelung von Konflikten zivilisierte Formen von beeindruckender Reife geschaffen: den sachorientierten gesellschaftspolitischen Diskurs, die wehrhafte Demokratie, den Wahlkampf, die Praxis des kritischen Rationalismus, die Tarifpartnerschaft oder den Vermittlungsausschuss in der Gesetzgebung, um nur einige Beispiele zu nennen.
Im Rahmen dieser Mechanismen der Konfliktlösung kommt physische Gewalt grundsätzlich nicht vor. Eine nicht selten unbarmherzige Auseinandersetzung bleibt immer unter der physischen Schwelle. Für die Einzelnen oft jenseits des Erträglichen aber grundsätzlich im Rahmen des gesellschaftlich tolerierten.
Muster der Austragung von Konflikten
Welche Muster der Austragung von Konflikten stehen den Einzelnen zur Verfügung? Das Repertoire ist eigentlich recht überschaubar. Es gibt ausweichende, konfrontative und konstruktive Muster, es gibt
- Flucht (Ausweichen, Vermeidung),
- Unterordnung (Anpassung, Nachgeben, einseitige Akzeptanz),
- Kampf (Durchsetzung, Vernichtung),
- Delegation (des Problems an eine andere Instanz),
- Kompromiss (Einigung mit Vor- und Nachteilen auf beiden Seiten) und den
- Konsens (Kooperation).
Der Konsens ist die anspruchsvollste Form der Auseinandersetzung. Er verlangt den Konfliktparteien maximale Flexibilität des Denkens und Kommunizierens ab. Beide Parteien müssen sich in die Interessenslagen der Gegenpartei hineindenken, diese erst einmal als berechtigt anerkennen und sich dann auf den Weg der mühsamen Erarbeitung von Lösungen und Teilschritten machen.
Ein Kompromiss ist eine Lösung, die rangmäßig unter dem Konsens steht, aber dadurch nicht weniger funktional und wertvoll ist. In der Politik ist der Kompromiss die häufigste Form der Konfliktlösung. Selten kommt so zwar die beste aller Lösungen zum Zug, aber der Kompromiss ist ein wesentlicher Beitrag zur Stabilität. Keine Seite verliert, der eigenen Anhängerschaft kann ein Erfolg präsentiert werden, das „System“ wird von der Mehrheit gestützt. Im gesellschaftlichen Subsystem der Wirtschaft, in der Kunst, der Wissenschaft und je nach Anspruchshaltung im Privaten hat der Kompromiss ein eher negatives Image. Mit Kompromissen lässt sich nicht zu den Sternen fliegen, so lässt sich keine Marktführerschaft erzielen, Besonderes schaffen oder Wahrheit finden. Beziehungen halten zwar mit Kompromissen vielleicht länger, aber Haltbarkeit ist nicht immer das Maß der Dinge.
Die Konkurrenz und der Kampf zielen darauf ab, die eigenen Interessen maximal durchzusetzen und die Interessen der Gegenseite zu ignorieren. Die Strategie der Unterwerfung macht das Gegenteil. Sie räumt den eigenen Interessen keinen oder sehr wenig Raum ein und lässt die Gegenseite gewähren.
Die Strategie der Vermeidung ist häufiger anzutreffen, als es auf den ersten Blick plausibel erscheint. Diese Strategie ist in Konflikten, die sehr stark von wechselnder Rechthaberei und Kompromissunfähigkeit geprägt sind, anzutreffen. Jeder will Recht haben, keine Seite gönnt der andere auch nur einen Funken Zugewinn. Lieber gehe ich unter, als dass Du einen Vorteil hast. Im Moment der Unausweichlichkeit einer Scheidung, alle Möbel zu zersägen, ist ein Musterbeispiel für loose-loose.
Die Wirksamkeit der Abschreckung basiert auf der Fähigkeit, das loose-loose Prinzip ebenso ernsthaft ins Kalkül zu ziehen, wie andere Strategien. Je weniger man sich auf dieses kalkulatorische Gedankenspiel der Abschreckung einlassen kann, umso schutzloser ist man den vielfältigen Formen der Erpressung ausgeliefert.
Eine Seite bekommen wir
immer geschenkt,
die andere Seite,
ist mühsame Arbeit
Menschen haben, wenn sie nicht im Konfliktmanagement trainiert sind, immer präferierte Grundmuster des Verhaltens. Sie sind deshalb in ihren Mustern und dadurch in der Konfliktbewältigung limitiert. Mit Abstand betrachtet lässt sich trocken konstatieren: Niemand kommt komplett auf die Welt. Die Prägung gibt eine Richtung vor, der Rest ist mühsame Arbeit der Selbstentwicklung.
Von Natur aus oder aufgrund der sozialer Prägung haben Menschen einen entweder eher nachgiebigen oder auf einen auf Konsens orientierten Konfliktstil (rechte Seite) oder einen eher auf Destruktivität oder Dominanz orientierten Konfliktstil (linke Seite). Es ist schwer zu sagen, welche Gruppe damit weiterkommt. Menschen, deren Prägung auf der Seite der Dominanz und Destruktivität liegt, sind in manchen Konfliktsituationen vermutlich erfolgreicher. Sie können aber eher keine win-win Kooperationen eingehen. Sie sind eher nicht zu konstruktiven, langfristigen Beziehungen in der Lage.
Menschen, die ihre Stärken eher auf der Seite der Kooperation oder Nachgiebigkeit besitzen, haben unter Umständen stabilere, erfüllendere Beziehungen. Sie können unter Umständen in einer konstruktiven Kooperation den großen Wurf landen, haben aber durch ihre Schwäche in der Durchsetzungsfähigkeit des öfteren einen Nachteil. Ihre besonderen Fähigkeiten können eher weniger gut zur Geltung kommen, weil sie sich öfter nicht gegen andere durchsetzen können.
Meisterinnen und Meister des Konflikts
Meisterin oder Meister des Konflikts sind in der Wahl ihrer Strategien oder Taktiken nicht limitiert. Sie beherrschen grundsätzlich alle Muster und wenden jeweils das Muster an, welches die Situation verlangt.
Sie können während der Austragung eines Konflikts mehrfach die Strategien wechseln und sich so der Gegenseite anpassen. Sie sind ideologisch nicht gebunden, haben also kein Problem damit, die verschiedenen Strategien anzuwenden.
Aus ökonomischen Gründen ist der Idealzustand der Konfliktbewältigung die win-win Situation. Eine Lösung, in der beide Seiten durch kluges Kooperieren einen größeren Nutzen haben, als sie ihn vorher auf dem Schirm hatten. So erstrebenswert win-win ist, diese Strategie ist manchmal einfach nicht möglich. Manchmal ist der Spatz des Kompromisses mehr wert, als die Taube des Konsenses auf dem Dach. Manchmal führt der Weg zum Kompromiss oder zum Konsens nur über den Kampf. Manchmal hilft nur der Kampf, um die Ausbeutung zu umgehen, manchmal macht ein vorausgegangener Kampf jede spätere Kooperation unmöglich.
Nicht alle Menschen sind
zu Kooperation oder Win-Win fähig
Meisterschaft bedeutet auch, nicht zu optimistisch zu sein, was der Fähigkeit der Menschen zur Flexibilität in den Grundmustern des Konfliktverhaltens angeht. Nicht alle Menschen sind aufgrund ihrer Prägung oder Persönlichkeitsstrukturen in der Lage, die Einseitigkeit ihrer Fähigkeiten zu überwinden. Sie können z.b. nur rücksichtslos agieren, die anderen dominieren oder eben komplett mit untergehen. Eine Kooperation ist für sie undenkbar. Andere werden nie mehr erreichen, als immer das Nachsehen zu haben. Sie werden den Akt der Selbstbehauptung vermutlich nie hinbekommen. Sie brauchen immer andere, die auf sie aufpassen. Das macht sie nicht weniger respektabel, sie sind einfach nur zu weich für die Konflikte des Lebens.
Eigene Präferenzen und Limitierungen und die anderer richtig einzuschätzen zu können, ist für die Konfliktfähigkeit einer Person elementar wichtig. Die häufigste Fehleinschätzung der eher weichen, kooperationsgeneigten Gruppe ist die, dass alle so sind oder sein müssten, wie sie selbst. Es müssen doch alle an win-win interessiert sein … Ihr Leitspruch: Ich bin immer kooperativ, dann sind es die anderen auch.
Die häufigste Fehleinschätzung der eher harten, dominanzgeneigten Gruppe ist die, dass alle guten Lösungen zwangsläufig über den Wettstreit mit harten Bandagen, ausgefochten werden müssen. Sie erwarten, dass alle die Fähigkeit haben oder haben müssen, hart für die eigenen Interessen eintreten zu können. Sie finden es völlig normal, immer so weit zu gehen, wie es die Gegenseite eben zulässt. Ihr Leitspruch ist: Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht.
Meisterschaft heißt, immer Klarheit und Einfachheit. Die Dinge so sehen zu können, wie sie sind und nicht, wie es bequem oder einfach ist. Also nicht die Art von Einfachheit, die zwar auch einfach genannt wird, aber eigentlich mentale Schlichtheit und Sturheit bedeutet.
Es ist eine anstrengende Reise, beide Seiten zusammenzubringen, das Harte und das Weiche. Die Stärke kommt nicht durch die Kraft, sondern aus dem Gleichgewicht von weich und hart. In den Kampfkünsten wird gefordert, alle Strategien auszubilden. Die Durchsetzungsstarken haben die Gelegenheit, die Geschmeidigkeit und die Nachgiebigkeit üben, die Konsensorientierten haben die Gelegenheit, die Unnachgiebigkeit und die Durchsetzungskraft zu üben.
© Mathias Raths
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